Katja Gentinetta, «menschliches Handeln sei Streben», sagte Aristoteles einst. Nach was strebt der Mensch?
Der Mensch will nicht einfach überleben. Er will vielmehr ein besseres Leben führen. Sein Streben danach und nach dem Glück überhaupt, gehört deshalb zu seinen Ureigenschaften. Da der Mensch die Fähigkeit besitzt, über sich und die Welt nachzudenken, kann er dieses Streben in vernünftige Bahnen lenken. Glücklich wird er – nach Aristoteles –, wenn er das richtige Zusammenspiel zwischen Ehrgeiz und Möglichkeiten findet und seine Fähigkeiten und Eigenschaft massvoll einsetzt. So gesehen hat das Streben nach Glück auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun.
Wenn Wachstum der menschlichen Natur entspricht: Können wir überhaupt anders, als stetig zu wachsen?
Ich verstehe Wachstum als Entwicklung. Aufgrund der beschriebenen Eigenschaft des Menschen gibt es keine Alternative. Sie würde bedeuten, dass wir stehen bleiben, dass wir Forschung und Entwicklung einstellen, unsere Neugier unterbinden und allen künftigen Generationen, und darum dreht sich die Frage des Wachstums und der Nachhaltigkeit ja, sagen müssten, dass genau das Leben, wie wir es jetzt führen, das einzig richtige ist und sie es bitteschön nicht verändern – also auch nicht verbessern – sollen.
Katja Gentinetta ist politische Philosophin. In der Reihe «Streitfragen» erschien 2022 ihr Plädoyer für Wachstum (Westend Verlag).
«Weniger ist mehr», sagt man. Sie aber plädieren für Wirtschaftswachstum. Ist mehr nun doch mehr?
Wachstum schliesst ein «Weniger» nicht aus! Und zwar weder menschlich noch ökonomisch. Wenn wir im Verlauf unseres Lebens klüger werden, ist das gut für uns und unsere Umgebung. Wenn Innovationen also dazu führen, dass weniger Ressourcen eingesetzt und Produkte effizienter werden, ist weniger tatsächlich mehr.
Wachstum bringt aber auch negative Folgen wie Umweltverschmutzung, Ressourcenverbrauch, Überkonsum oder Stress und Überforderung mit sich. Halten Mensch und Erde permanentes Wachstum aus?
Ich negiere die negativen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten in keiner Weise. Umgekehrt aber weise ich darauf hin, dass diese Entwicklung auch Fortschritte mit sich brachte: sauberere Flüsse und Seen, reinere Luft, rezyklierbare Materialien und mehr. Wer seinen Überkonsum und Stress einfach auf «das Wachstum» zurückführt, macht es sich zu einfach. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, in seinem Leben Prioritäten zu setzen, eigene Entscheidungen zu treffen und sich selbst Grenzen zu setzen. Permanentes Wachstum mit permanenter Steigerung der Schäden gleichzusetzen, ist falsch.
Sie sagen sogar, dass die schädlichen Nebenwirkungen von Wachstum nur durch weiteres Wachstum behoben werden können. Das müssen Sie erklären!
Für den Erfolg von Unternehmen sind Innovation und Anpassung an Kundenbedürfnisse zentral. Innovation ist Entwicklung – auch hier bedeutete ein Entwicklungsstopp das Verhindern von besseren Produktionsprozessen, Produkten, Transportmöglichkeiten und so fort. Ausserdem finden Sie heute kaum mehr ein Unternehmen, das sich um Umweltthemen komplett drückt. Und wenn es dies täte, würde es an den Kundenbedürfnissen vorbei agieren. Im Gegenteil: Die Herkunft der Materialien, die Produktionsbedingungen und -wege, Arbeitsstandards auch fern vom Hauptsitz sind in der überwiegenden Mehrheit der Unternehmen bereits als Leitplanken standardisiert.
Wie erklären Sie sich die aktuelle Beliebtheit der Wachstumskritik?
Einerseits durch Ideologie – eine Ideologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Realität ignoriert. Andererseits durch unseren hohen Lebensstandard in den entwickelten Ländern: Wir haben alles und können uns alles leisten, womit tatsächlich der Wunsch nach weniger aufkommen kann. Und es steht ja auch allen frei, diesem Wunsch nachzuleben! Hingegen wäre es ein Hohn, jenen Menschen, die diese Entwicklung noch vor sich haben und verständlicherweise nach einem besseren Leben streben, Wachstum zu verbieten.
Kritiker sagen, Wachstum heisse: Ausbeutung Vieler und Wohlstand Weniger. Ist Wachstum immer ungerecht?
Es ist die immer gleiche ideologische Position jener, die die Veränderungen, welche die Marktwirtschaft und Staat seit dem Manchesterkapitalismus durchgemacht haben, konsequent ignorieren: etwa bessere Arbeitsbedingungen, steigende Löhne, Sozialversicherungen. Erfolgversprechende Lösungsvorschläge aus dieser Warte sind mir bisher nicht bekannt; das sozialistische Experiment ist ja offenkundig gescheitert.
Was ist Ihre Lösung ?
Einen «Quick Fix» gibt es nicht, aber Instrumente und Massnahmen, die zusammen die wirtschaftliche Entwicklung in die richtige Richtung lenken. Es braucht globale Umwelt- und Sozialstandards, die glaubwürdig durchgesetzt werden, auch im globalen Handel – also durch die WTO; die Sustainable Development Goals der UNO und die ESG-Kriterien, an denen sich die Unternehmen bereits orientieren, sind ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Es braucht nationale Politiken, die ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik daran ausrichten; das WEF hat mit seinem Dashboard eine Ergänzung zum reinen BIP vorgeschlagen. Und vor allem muss die Umwelt einen Preis haben! Ein realistischer und global gültiger CO2-Preis muss hier den Anfang machen.