Das Interview führte Alena Sibrava, Swissmem
Warum interessieren Sie sich für das Thema Arbeit 50plus?
Ich gründete mein Beratungsunternehmen mit dem Wunsch, Menschen darin zu unterstützen, mehr zu lernen und sich zu entwickeln. Dabei stellte ich rasch fest, dass die meisten Unternehmen, sowohl Dienstleister wie auch Industriefirmen, kaum Vorstellungen von der zweiten Hälfte einer Karriere haben. Je nach Branche beginnt diese mit 50 oder bei stark technologiegetriebenen Firmen schon mit 40. Mir ist aufgefallen, dass man sehr viel zur Förderung der Jungen macht. Für ältere Menschen fehlen jedoch oft die Ideen.
Warum ist das so?
Wir haben in der Schweiz noch immer ein sehr zweckorientiertes Verständnis von Weiterbildung – gekoppelt an die Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb. Wenn es diese nicht mehr gibt, glauben viele Arbeitgeber und Arbeitnehmende, dass sich die Investitionen in Weiterbildungen nicht mehr lohnen. Dazu kommt, dass in der Schweiz rund ein Drittel aller Arbeitnehmenden etwas vor dem offiziellen Rentenalter in Pension geht – Frauen in der Regel noch früher als Männer. Wenn ein Unternehmer also damit rechnen muss, dass ein Mitarbeitender mit 62 in Frühpensionierung geht, dann fragt er sich, warum er ihn noch speziell fördern sollte.
Wir werden immer älter. Heisst das, wir sollten auch länger arbeiten?
Der demografische Wandel gibt uns die Chance, länger aktiv mitzugestalten und produktiv zu sein, auch im Erwerbsleben. Wenn wir künftig 100 werden, können wir andere Lebensziele anpeilen, statt mit 65 in Pension zu gehen und dann 35 Jahre lang zu biken und zu reisen. Gesund zu altern heisst für mich – etwa im Einklang mit der Weltgesundheitsorganisation – konkret, dass man gesellschaftlich aktiv, wach und urteilsfähig bleibt. Um das zu erreichen, meine ich, ist die «bequeme Sofaecke» der falsche Ort.
Was schlagen Sie vor, sollten wir konkret tun?
Wir müssen aus diesem Dreiklang «Ausbildung – Arbeit – Ruhestand» ausbrechen. Wir lernen ein Leben lang und können auch ein Leben lang etwas bewirken und arbeiten – völlig unabhängig davon, ab wann wir Rente beziehen können. Statt mit 65 in einen definitiven Ruhestand zu treten, sollten wir uns lieber zwischendurch kleinere Auszeiten gönnen, um durchzuatmen und nach einer Standortbestimmung passender wieder einzusteigen, dann können wir uns gut bis 75 oder länger engagieren.
Sind nicht schon 60-Jährige heute ausgebrannt?
Das erlebe ich anders. Und bei denjenigen, die es tatsächlich sind, ist nicht ihr Alter das Problem, sondern, dass sie viel zu lange routiniert am selben Ort geblieben sind. Da beisst sich die Schlange in den Schwanz. Wenn nach 45 nichts mehr passiert und man im immer gleichen Trott vor sich hin schuftet, ist es klar, dass man es mit 60 gesehen hat.
Dazu kommen – je nach Art der Arbeit – auch körperliche Beschwerden.
Das ist ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält. Wir haben noch immer das Narrativ vom legendären Bauarbeiter, der am Ende seiner Karriere verbraucht sei. Interessanterweise sagen das immer Leute, die keine Ahnung vom Bau haben. Denn auch dort ist inzwischen vieles maschinell geregelt. Womit wir uns öfter konfrontiert sehen, ist zunehmender psychosozialer Stress – Klientenstress, Kollegenstress oder noch häufiger Führungsstress. Diejenigen, die am häufigsten IV-Rente beziehen, sind Pflegefachleute, Polizisten und Lehrpersonen. Was uns fertig macht, sind misslungene zwischenmenschliche Beziehungen.
Empfehlen Sie älteren Mitarbeitenden, im gleichen Beruf zu bleiben oder sich nochmals neu zu orientieren?
Ich glaube, es gibt nicht ein Rezept. Wichtig sind regelmässige Standortbestimmungen, in denen Arbeitgeber und -nehmer zusammen die Möglichkeiten ausloten. Insgesamt könnten wir viel experimenteller werden und den firmeninternen Arbeitsmarkt offener behandeln. Wieso nicht einmal in eine andere Abteilung wechseln oder sich rechtzeitig ein zweites Standbein aufbauen und dann gegen Ende der Karriere umsatteln? Das braucht vielleicht nochmals etwas Weiterbildung, aber so bleiben wir wach und beweglich. Wenn man im gleichen Job bleibt, besteht die klare Erwartungshaltung, dass der Arbeitgeber, falls gewünscht, um die Verlängerung über 64/65 hinaus bittet. Das hat ein kürzlich von mir initiiertes Citizen Science-Projekt ergeben, in welchem wir Lebensläufe von Menschen analysiert haben, die über die Pensionierung hinaus arbeiten.
Arbeit ist das eine, aber es gibt ja auch noch andere, sinnstiftende Tätigkeiten?
Ja, das sehe ich auch so. Es muss nicht unbedingt bezahlte Arbeit sein, auch ehrenamtliche Arbeit nach der Pensionierung ist gut und erwünscht. Die Voraussetzung ist jedoch, dass sie eine Verbindlichkeit beinhaltet. Nur so kann man sich weiterentwickeln und bleibt agil. Wenn ich nach Lust und Laune einen Krankenbesuch im Spital machen kann, dann bringt mich das persönlich nicht unbedingt weiter. Erst wenn ich gefordert werde, Verantwortung übernehmen muss und reflektiere, was ich nächstes Mal besser machen könnte, ist der Grundstein für Entwicklung gelegt und ich lerne mit Situationen intelligent umzugehen. Das befriedigt und hält gesund.
Also nichts mit Ferienhaus umbauen und Enkelkinder hüten?
Doch, wer das tun will, soll. Aber auch da würde ich gerne beliebt machen, dass man wieder einsteigen kann, selbst wenn man eine Zeitlang nicht gearbeitet hat. Meine Beobachtung, und was ich aus Studien kenne, ist, dass viele nach ein, zwei Jahren «Freiheit» gerne wieder gewisse Aufgaben übernehmen wollen, wenn auch nicht zu 100 Prozent. Lange sollte die Auszeit allerdings nicht dauern, sonst traut man sich die Arbeit irgendwann nicht mehr zu. Ich erinnere mich an zwei Jahre Mutterschaftsurlaub in Deutschland. Nach der Halbzeit sagten viele Frauen, sie wüssten nicht mehr, ob sie dem Betrieb noch gewachsen wären. Und ich begriff sie. Man muss dranbleiben.
Warum ist es für Ü50-Jährige oftmals schwierig einen Job zu finden?
Der Grund dafür sind meist weitverbreitete Altersstereotypen, wie zum Beispiel, dass ältere Menschen nicht mehr innovativ seien. Wir gehen von einem antiquierten Bild aus und orientieren uns an der Generation unserer Grosseltern. Wir haben diese Idee, dass ältere Leute nicht entwicklungsfähig sind. Dabei kenne ich genauso viele Jugendgreise, die schon mit 16, mit Krawatte um den Hals, ins Grab sinken könnten. Schauen Sie sich Frau Merkel an, die war mit 67 die wahrscheinlich beweglichste politische Figur in der deutschen Politik und von einem Picasso hätte niemand mit 65 verlangt, dass er den Pinsel weglegt. Warum können wir nicht alle ein bisschen Picassos sein?